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Garmarna ist zurück. Offiziell aufgelöst hatte sich Schwedens
wohl innovativste Electro-Folk-Band zwar nie, aber nach fünfzehn
Jahren Albumpause war es doch eine große Überraschung,
dass mit 6 jetzt ein neues, und - jawohl - das sechste Werk erscheint.
Zusammengefunden hatten sich die drei Gründer der Band, Stefan
Bristand-Ferner, Gotte Ringqvist und Rickard Westman, schon vor
mehr als 25 Jahren in der nordschwedischen Industriestadt Sundsvall
- inspiriert, wenn man der Legende Glauben schenken darf, von einer
Hamlet-Aufführung, die mit traditionellem schwedischen Liedgut
begleitet worden war. Ihre eigenen Soundexperimente mündeten
schließlich in einer Verquickung von Folk, mittelalterlichen
Motiven und äußerst neuzeitlicher Technik. Unterstützt
wurden sie schon bald vom Schlagzeuger Jens Höglin, und 1993,
nachdem eine erste EP veröffentlicht worden war, stieß
Emma Härdelin als Sängerin dazu.
In dieser Besetzung entstand das Debütalbum Vittrad, das meisterlich
mittelalterliche Instrumente wie Drehleier und Laute mit Sequenzern
und Sampling kombinierte. Der Erfolg blieb nicht aus: Vittrad wurde
1994 bei den schwedischen Grammis als bestes Folkalbum nominiert,
und die Band bekam einen Vertrag bei dem amerikanischen Label Omnium
und bei Westpark Music, das sich seitdem um die Veröffentlichungen
in Europa kümmert. Guds Spelemän, der Nachfolger, erhielt
den begehrten Folk-Grammi dann tatsächlich, und Garmarna absolvierten
eine Reihe erfolgreicher Tourneen durch Europa und die USA.
Auf dem Album Hildegard von Bingen setzte sich Garmarna mit den
Texten der Mystikerin auseinander, wieder - nachdem die Band zuvor
mit Rock- und TripHop-Elementen experimentiert hatte - stark geprägt
von Mittelalter-Elektronik-Elementen. Ihre Tourneen führten
sie 2001 sogar nach Japan. Und dann wurde es plötzlich still
um die Band. Andere Interessen, andere Verpflichtungen rückten
in den Vordergrund, und die fünf Musiker beschlossen, Garmarna
eine Weile ruhen zu lassen.
Aus dieser Weile wurden schließlich über zehn Jahre.
Emma Härderlin arbeitete mit anderen Bands, vor allem dem Folk-Trio
Triakel, und auch Garmarnas hauptsächlicher Songwriter, Stefan
Brisland-Ferner, arbeitete weiter als Profimusiker, während
sich die übrigen Mitglieder anderen Dingen widmeten. Man blieb
in Kontakt, und ganz allmählich fanden die fünf Bandmitglieder
wieder zurück zur Musik. Auf den einen oder anderen Gig folgte
im September 2013 ein fulminanter Auftritt als Headliner bei einem
Festival in Selb. Danach war allen Beteiligten klar: Es war an der
Zeit für neues Material.
Nach einem Jahr konzentrierter Arbeit in Stefans eigenem Studio
in Stockholm, aber auch in den vertrauten Nevo-Studios in Sundsvall,
in denen die Band schon vor fünfzehn Jahren gearbeitet hatte,
nahm das Album 6 Gestalt an: Während der langen Auszeit hatten
sich so viele Ideen angesammelt, dass beinahe doppelt so viele Songs
entstanden, als tatsächlich auf der Platte Platz fanden.
Noch immer lebt Garmarnas Musik von der Reibung zwischen Tradition
und Moderne. "Över gränsen", das in Schweden
vorab ausgekoppelt wurde, spielt alle Stärken der Band aus
und geht noch einen Schritt weiter: Harte Rhythmik und kantiges
Sampling schaffen eine Soundkulisse, die ebenso zu Emmas melodischen
Vocals passt wie zu Gast-Rapperin Maxida Märak.
Der Song "Öppet hav" entstand ebenfalls mit prominenter
Unterstützung: Garmarna konnten Joakim Thåström,
in Schweden schon aufgrund seiner Arbeit mit den Punk- und Independent-Legenden
Ebba Grön und Imperiet seit langem ein Kultstar, für ein
Duett gewinnen.
"6" spannt einen breiten Bogen - von düsterem Rock
bis zu beinahe poppigen Melodien, von elektronischer Härte
bis zu akustischer Sanftheit. Dazu erzählen die schwedischen
Texte von mythischen Figuren wie dem großen Vogel in "Väktaren",
der wachsam auf majestätischen Schwingen über Land und
Meer gleitet, aber auch vom Hass und Gewalt in der heutigen Gesellschaft
wie in "Över gränsen", von Liebesleid und Fenstergeistern
oder von dem geschlagenen Sohn in "Ingen", der als Erwachsener
an seinem Vater Rache nimmt. Mit "Ett dolt begär"
hat Garmarna eine alte Ballade aus Hammerdal bearbeitet, den Text
erweitert und musikalisch mit einer düsteren Note versehen,
die passend zum Thema, dem heimlichen Begehren, Gefahr und Verzweiflung
heraufbeschwört.
Die Vielfalt der Einflüsse macht es schwer, ein Etikett zu
finden, das auf die Musik von Garmarna passt; ihre moderne, elektrifizierte
Folklore spricht auch Hörer an, die mit dem traditionellen
Folk-Begriff so gar nichts anfangen können. Die Band selbst
beschrieb ihren Sound einst als "monoton, melodisch und melancholisch".
Man möchte hinzufügen: innovativ und authentisch. Oder
einfach: Garmarna.
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-Hildegard von Bingen (1098-1179) war visionäre Mystikerin
und eine aussergewöhnliche und durchsetzungsfähige Frau.
Manche gehen so weit zu behaupten: wäre sie ein Mann gewesen,
hätte ihre künstlerische und intellektuelle Leistung Weltgeltung
erlangt. Sie war Äbtissin eines großen, blühenden Benediktinerklosters,
bekannt aber auch als Predigerin, Ärztin, Wissenschaftlerin und
Künstlerin, die Bücher zu den verschiedenen Sachbereichen
verfasst hat. Ihr Werk umfasst weit mehr als die bekannt gewordenen
Schriften über den heilenden Effekt von Kräutern. Sie
dichtete und komponierte. Hildegard empfand sich als "Posaune"
Gottes. In ihren Werken sind Wort und Musik gleichrangig. Beide
Bereiche ergänzen sich zu einem Ganzen.
Die erste Bekanntschaft mit Hildegard von Bingen macht Garmarna
im Frühling 1996. Während der Aufnahmen zu "Guds
Spelemän" kommt ein Vorschlag von Göran Sjögren,
Produzent bei der Kulturorganisation "Länsmusik",
eine Tournee mit den Gesängen der Äbtissin auf die Beine zu
stellen. Hildegards Musik ist bis dahin keinem der Bandmitglieder
ein Begriff gewesen, aber Göran Sjögren schickt der Band
einige Platten. Einige vage Versprechungen werden gemacht. Dann
wird das Ganze auch prompt vergessen. Das Leben geht weiter.
1998 wird weltweit Hildegards 900. Geburtstag begangen und plötzlich
meldet sich die Kulturorganisation wieder - dieses Mal mit der Nachricht,
dass eine Tournee in Verbindung mit dem Jubiläum geplant sei.
- Ein wenig Panik stellt sich ein. Stefan beginnt einige verbindende
Passagen und Refrains zu schreiben, während sich Emma
Härdelin mit den lateinischen Liedtexten herumschlägt.
Garmarna probt und arrangiert. Man sitzt viele Stunden schweigsam
herum und starrt sich an. Alle zweifeln daran, dass es klappen würde.
Erst am Tag vor dem Konzert steht alles. Und es kommt doch noch
zu der Tournee, die Band tritt größl;tenteils in Kirchen
auf und ist am Ende doch ganz zufrieden.
Aber Hildegard ist noch nicht fertig mit Garmarna. Oder ist Garmarna
nicht fertig mit Hildegard? Wie auch immer: Auf das Album "Vedergällningen"
drängt sich eine Version von "Euchari". Irgendwie
ist es damit noch nicht getan. Garmarna - oder ob es nicht doch
Hildegard ist? - will mehr. Und es wird eine ganze CD. Kurz und
gut: Garmarna - "Hildegard von Bingen".
Produziert von Erik S. Sidelake, Schwedens Houseking 2001. Das auf
dem Papier ungleiche Paar Erik S. und Garmarna hat sich gesucht
und gefunden. Garmarna hat mit Hildegard von Bingen und Erik S.
als Produzenten einen Schritt in einen neue, vielversprechende Richtung
getan. Die Band beweist wieder einmal, dass sie eine der interessantesten
ist, die Schweden zur Zeit zu bieten hat.
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